Matthias Steier Auswärtsspiele

Laufzeit

26.02.2010
bis 10.04.2010

MATTHIAS STEIER (*1959) studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bei Dietrich Burger, Wolfgang Peuker und Arno Rink. 1983 erwarb Steier sein Diplom als Maler und wirkte von 1983-1985 am Monumentalbild von Werner Tübke in Bad Frankenhausen mit. Seit 1987 lebt und arbeitet er als freischaffender Künstler in Eisenhüttenstadt und ist an zahlreichen Ausstellungen in Deutschland, Polen, Niederlande und Belgien beteiligt.

Ein Torero mit Schwimmbrille fertig zum Absprung ins unsichtbare Wasser, ein einzelner
übergroßer Apfel treibt verfolgt von zwei Schwimmenden an der Wasseroberfläche, ein Gürteltier in der südamerikanischen Landschaft, welches den am Schwibbogen sitzenden und dem Betrachter zuprostenden Mann ignoriert. Die Malerei von Matthias Steier ist rätselhaft, ein herausforderndes Verwirrspiel. In kraftvollen Farben schafft der Künstler surreale Landschaften, welche zum Innehalten und Entdecken einladen.

Laudatio von Dr. Sylke Wunderlich:

„Auswärtsspiele“ sind ein schwieriges Unterfangen – die Mannschaft muss in fremdes Terrain reisen, kennt den Platz der Begegnung nicht. Wie ist das Publikum?, ist es wohlwollend oder besonders kritisch … Auswärts spielen ist kein Heimspiel. Diese gelten als leicht, günstiger bei schwierigen Voraussetzungen, extremen Ausgangsbedingungen. Auswärts sind die Zuschauer meist unbekannt, neugierig und vielleicht auch toleranter. Beim Heimspiel ist die Erwartung groß, unter Umständen zu groß. Die Zuschauer haben schon Erfahrungen mit dem Spieler und er fragt sich, kann ich gestellte Erwartungen erfüllen.

Für den Künstler und die Laudatorin existiert noch eine Besonderheit. Für uns beide sind Ausstellung, bzw. Rede ein Auswärtspiel, Matthias wohnt seit langem in Eisenhüttenstadt und ich in Berlin. Ob es ein leichtes Heimspiel wird, wir sind gespannt, denn schließlich stammen wir beide aus Leipzig, haben hier die erste Hälfte des Lebens verbracht.

So gesehen, genießen wir auswärts einen Heimvorteil, die Umgebung ist nicht fremd, die Gesichter und die Kunstszene sind bekannt, deutlich sichtbar wohlwollend. Selbstverständlich werde ich jedoch nicht über mich reden, sondern über die Hauptperson des heutigen Abends und seine Ausstellung, so gesehen bin ich das Begleitpersonal, jedoch nicht als Manager, eher die PR-Beauftragte, um nochmals sportliche Kategorien zu bemühen.

Matthias Steier hat an der renommierten HGB studiert, bei den Professoren Dietrich Burger, Wolfgang Peuker und Arno Rink. Einige Jahre beschäftigte ihn sehr intensiv der Bauernkrieg im Bild, als Mitarbeiter von Werner Tübke in Bad Frankenhausen. Damit sind für die Kenner der Szene schon seine künstlerischen Einflüsse und Vorbilder fest umrissen. Die Mischung, die aus diesen entstehen kann, ist Grund genug, genauer hinzuschauen. Seit über zwei Jahrzehnten entwickelt Matthias Steier rätselhafte Bildgeschichten, in denen Elemente genannter Einflüsse auftauchen, zu neuem Kontext verwoben werden. Mit malerischer Raffinesse, gekonntem und mühelosem Festhalten jedweder, noch so komplizierten Bewegung seiner Protagonisten, entwickelt Matthias Steier Bildräume, die zu Bühnen eines von ihm zusammengestellten und erfundenem Welttheaters avancieren.
Figuren aus Zeit- und Kunstgeschichte – der Inquisitor, die spanische Infantin, die Velazques einst malte, Personen aus der Commedia dell arte, Heilige christlicher Legenden, antike Fabelwesen und Sagengestalten ebenso wie Geschöpfe aus der Natur tummeln sich hier. Es scheint, als habe Matthias Steier all jene auf seiner Bühne vereint. Dort bewegen sie sich jedoch häufig losgelöst, in sich zentriert, voneinander distanziert. In grandiosen Verrenkungen, Verkürzungen, kraftvollen Bewegungen oder vermeintlicher Starre verharren sie gleichsam in der Bewegung. Schnappschüssen oder Gedankensplittern gleich, montiert er Gegenstände und Geschöpfe in spannungsvolle Bildebenen zueinander. Der Blick ist geschult und wächst durch ein grandioses Bildgedächtnis, das ihm ermöglicht, Elemente scheinbar willkürlich auszuwählen, und ohne sofort erkennbaren Zusammenhang, zu kombinieren. Geschichte und Geschichten, nachvollziehbar in bebautem Gelände sowie überlieferter Chronik sind der Ausgangspunkt für seine bildliche Aufhebung von Zeit und Raum. Kombinationen von Erlebnissplittern finden sich in seinen vielschichtigen Bildern als Reflexionen wieder. Sie entstehen im Spannungsfeld von Erlebtem, Verarbeitetem und Ersonnenem.

Matthias Steier bietet immer wieder Reisen an und wir wissen nicht, wohin sie führen, das Ziel liegt auch diesmal auswärts. Landschaften – Patagonien und die Anden, Italien und Spanien, imaginär auch Griechenland, Kreta oder Brandenburg: die topografischen Zeichen der Gegenden sind entzifferbar. Aber des Malers Reise führt nicht nur in reale Gefilde sondern auch in die fantastische Welt seiner Gedanken - flüchtige oder grüblerische, fröhliche oder tief traurige, in Träume und Traumata. Es entstehen flirrende Landschaften, die Trugbilder gebären. In ihnen wandeln Menschen, gelegentlich er selbst, mit ihren glaubhaften oder unglaublichen Geschichten. Dort stehen verlassene Bauten, geschichtsträchtige Gemäuer wie Klöster, Kirchen und Burgen. Die alten Legenden der Templer, Kreuzzügler oder Mönche bekommen ein greifbares Zuhause. Legende und Topos nutzt der Maler als Versatzstücke seiner Werke.

In die Liste seiner bisherigen Ausstellungstitel, beispielsweise »tierisch – menschlich«, »Apple on Tour«, »Arche Steier«, »irdisch und entrückt« oder »Süden im 1. Stock« scheint sich »Auswärtsspiele« nahtlos einzufügen. Er nennt damit eine weitere Facette seiner Kunst beim Namen, die sich zu den anderen fügt, denn auch in dieser Ausstellung sind seine Bilderfindungen, tierisch, menschlich, apple on tour, irdisch und entrückt, Elemente der Arche, aus dem Süden inspiriert und auswärts.

Das Bild „Im ersten Stock“, 2008 gemalt, kann neben anderen, in der Tradition der Leipziger Malerkollegen, als ein simultanes Schlüsselbild verstanden werden. Es bietet Zugang zu seiner Malerei, die sowohl Zitate der Kunstgeschichte bemüht, diese in einen neuen Kontext stellt, Literatur zitiert aber genauso das eigene Erleben und Empfinden widerspiegelt, Anreger vorstellt. So Picassos Bild „Laufende Frauen am Strand“, die Venus von Milo – hier mit modischem, aufreizend rotem Top, oder Paul Klees „Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich“, adaptiert zu einem Doppelbildnis der Zwillinge Steier. Aber er versteckt auch Hinweise auf die gegenwärtige Situation: wer nach der Krankentrage fragt, bekommt Antwort spätestens in seinem Atelier, das sich in einem Gebäude des Eisenhüttenstädter Krankenhauses befindet. Und es enthält eindeutige Hinweise auf seine Reiselust.

Beim Betrachten seiner Werke wird schnell klar, hier bewegt sich ein Kenner und ein Wissender durch das Welttheater und tritt an, ein eigenes zu erschaffen. In realistisch-veristischem Malstil, manchmal bis zur fotografischen Genauigkeit, werden die Versatzstücke in einen mystischen-mythischen Kontext gebracht. Und er beherrscht die Technik meisterlich. Die Malerei in feinster Lasurtechnik, erlaubt Abstufungen und unglaubliche Farbtiefe. Andererseits wird sein Pinselstrich kraftvoll, dann streichelt er förmlich Leinwand oder Aquarellpapier mit Pinsel oder Tusche. Die Palette ist reichhaltig und kräftig. Warme Tonigkeit von Rot und Gelb vermischt sich mit kalten Abstufungen von Türkis in Kontrasten zu diffenziertem Grün. Braun- und Ockertöne in gleißendem Sonnenlicht heben sich von metallisch glänzenden bläulichen Gebirgszügen ab.

Durch die fantastische Zusammenstellung der einzelnen Akteure, entsteht eine eigene Mythologie. Sie speist sich durch christliche Ikonografie, mittelalterliche Zahlensymbolik, antike Sagenwelt oder literarische Inspirationen. Magie, Rätsel, Visionen, Träume und der zuweilen surreale Kanon lassen die Bilder in völlig neuem Licht erscheinen. Sie erschließen sich nur vordergründig auf den ersten Blick, auch nicht auf den zweiten – manches bleibt des Malers Geheimnis. Der Drang lässt nicht nach, den Schlüssel zu finden. Wir erspüren die Bedeutungshaftigkeit einiger Bildteile und wissen, dass wir vom Maler keine Erklärungen erwarten können. „Die Kunst entsteht im Auge des Betrachters.“ bemerkte Picasso überaus treffend, damit kann sich der Künstler den von ihm verlangten Erklärungen und Erläuterungen zu seinen Arbeiten geschickt entziehen.

Für den Betrachter bleiben es Merkwürdigkeiten und Anspielungen: so tauchen immer wieder Äpfel auf. In der Bibel ist der Apfel das Symbol der Versuchung. Die Skandinavier glaubten an ihn als eine Frucht, die, bei regelmäßigem Genuss, nicht altern lässt. Die Griechen sahen in ihm ein Symbol der Erotik oder das Sinnbild der Fruchtbarkeit. So wird er zum Gleichnis. Steier zeigt uns aber auch gespaltene Äpfel, ihren Griebsch, sie schwimmen frisch aufgeschnitten in Brunnen oder liegen reif, saftig und sündig inmitten von gleißenden Wüstenlandschaften: Symbole für das Leben, die Fruchtbarkeit, die Erkenntnis, die Unsterblichkeit und die Vergänglichkeit.

Ein weiteres Gleichnis – der Stier: kraftstrotzend, schnaubend und sehr lebendig, dann wieder als werbende schwarze Silhouette, wie sie in Spanien oder Lateinamerika einsam in der Landschaft steht. Eventuell sind dies Anspielungen auf die antike Sage der schönen Europa, die von Zeus in seiner Verwandlung als Stier entführt wurde und auf Kreta den sagenhaften Minos gebar. Die Motive finden sich auf antiken Vasen ebenso wie in der Kunst eines Rembrandt, Tizian, Tintoretto oder Picasso. Die traditionellen Stierkämpfe faszinieren den Maler, er sieht den Stier als Zeichen der Stärke und Zeugungskraft. Vielleicht steckt gar ein Hinweis auf die Welt des Geldes darin, hier gilt der Stier/Bulle als Zeichen steigender Aktienkurse an der Börse.

Zusätzlich sind Alltagsgegenstände verfremdet und neu kombiniert, vereint in verschlüsselten Szenen und fiktiver Kombinatorik zu manieristisch übersteigerter Weltsicht und Allegorien. Schwibbögen treffen auf die Teile der abgetragenen Mauer, verschiedenartigste Kostümierungen der Figuren erweitern Raum- und Zeitgefüge. Pegasos trifft auf Bonny und Clyde, als versteckte Anspielung auf Bonnys überlieferte Vorliebe zur Literatur? Und, immer wieder neu, der Torero. Er taucht außerhalb seines Wirkungsraumes der Arena, nämlich in weiter Landschaft auf. Scheinbar muss er aber auch dort Kämpfe bestehen, ähnlich schwierig, verletzend oder Gewinn bringend. Es scheint, als übernimmt eine von Steiers zahlreichen spanisch kostümierten Frauengestalten die Rolle des Stieres, der provoziert werden soll oder gezähmt?

Steiers Bilder sind Bühnenräume, in denen Geschöpfe aus Geschichte und Gegenwart, aus Literatur und Film agieren. Sie verkörpern Sinnbilder, Gleichnisse, die sich nicht sofort erschließen, uns aber scheinbar an die Hand nehmen, die Welt des Malers und die eigene zu entdecken. Er hilft uns, dieses wunderbare Welträtsel zu deuten, das der hektische, medienüberflutete Mensch im 21. Jahrhundert kaum mehr wahrzunehmen scheint und holt es ins Bewusstsein zurück. Zeitgleich lenkt er die Aufmerksamkeit auf das differenziert Zwischenmenschliche, die offensichtliche Einsamkeit und Anonymität. Durch die surreale Kombination der Bildelemente und mit versteckten Selbstbildnissen nimmt er uns auf eine Reise zu den Spielen mit, auf eine Reise mit ungewissem Ausgang, auswärts. Sie kann eine Reise in die eigene Vergangenheit sein oder in eine poesievolle Zukunft. Machen Sie sich auf, Matthias Steier zu den Auswärtsspielen zu begleiten, ich verspreche Ihnen lustvollen Gewinn.

Sylke Wunderlich